Oberharzer Heimatabend |
||
|
Wie jeden Monat in der Kursaison lädt auch an diesem Tag die Kurverwaltung der Bergstadt zu einem der berühmten Heimatabende ein. Das Ehepaar Klabinski, das aus Berlin - Tempelhof angereist ist, freut sich seit zwei Tagen auf das schöne Konzert. „Nicht immer diese olle Negermusik”, hört man Herrn Klabinski sagen, „sondern mal was für das Gemüt!” Sie haben in der zweiten Reihe vor der Konzertmuschel Platz genommen. Währenddessen hat sich Friedhelm Klappka, auch
bekannt als der „Straube” seinen blauen Fuhrmannsanzug
angezogen und schwenkt wagemutig seine Peitsche. Dabei räumt
er in der „guten Stube” die Blumenvase ab, welche auf dem
Wohnzimmertisch stand.
„Das wird ein unvergesslicher Abend”, raunt Herr Klabinski seiner Frau zu. In der Tat beginnen die „singenden Köhler“ mit dem schönen Heimatlied:
Wenn der Fuhrmann mit der Peitsche knallt, dann steh ich ganz allein im Wald. Holladihö, hollajuchee! Wanderer, geh’ ganz schnell nach Haus’, denn Gemütlichkeit guckt zum Fenster raus! Jidödelholladi, duhödeljolladi! Wo die Hausfrau Ordnung schafft, gibt dem Oberharzer neue Kraft. Holladihö, hollajuchee!
Den Vögeln geht es auch so gut, weil der Mann sich drum bekümmern tut. Holladihö, hollajuchee! Macht er mit den Vögeln Wettbewerb, gewinnt, wessen Gesang zuletzt ersterb’ Jidödelholladi, duhödeljolladi! Und das war sein Pi-hiepmatz, ein ganz besonderer Schatz Holladihö, hollajuchee!
Dann hat sich doch die Müh’ gelohnt, denn zu Hause hat’s sich schwer gewohnt. Holladihö, hollajuchee! Der gute Nachbar mit dem Pflanzengift, hat heimlich in den Bauer geschifft. Jidödelholladi, duhödeljolladi! Da starben die besten Buchfinken, es tat unsäglich stinken. Holladihö, hollajuchee! Der Nachbar, der ist ja so schlecht darum wird der Finkenhahn gerächt. Holladihö, hollajuchee! Die Sonn' geht auf, leer ist der Schrank das Gewehr macht einen Spaziergang. Jidödelholladi, duhödeljolladi! Ein guter Schuss zur rechten Zeit, Nachbar’s Dackel streckt die Beine breit! Holladihö, hollajuchee!
Dazu wird zum Schunkeln animiert. Die Sänger kippen
je nach Reihe versetzt im Gegentakt, was an einen
Betriebsausflug nach einer Weinkellerbesichtigung erinnert.
Der "Straube" knallt mit seiner Peitsche im Walzertakt und die
Blaskapelle unterstützt mit Paukenschlagen das stimmungsvolle
„Hummtata”. Die Zuhörer bilden eine verschworene Gemeinschaft.
Keiner, der nicht untergehakt den Gleichgewichtsstörungen
folgt.
Oh! Du geliebte Harzer Grasnelke, wenn ich Dich nicht pflücke, ich vor Leidenschaft welke Denk’ an Deine Stängelstücke komm zu mir in die Vase - und entrücke mich der grauen Gegenwart das wahre Leben ist so hart. Bei der Stelle „Stängelstücke” kommt bei Gerry Dunkel die zweite Welle des Mageninhalts. Eigentlich hatte er leer sein sollen, aber Gerry hatte den Geburtstag des Vorarbeiters mit Mettbrötchen begangen. Schließlich wollte er ja nicht auf ewig Schlacke vom Boden kratzen. Die Männer an den Zinköfen werden besser bezahlt, ist zwar heiße Arbeit, aber gibt viel mehr Geld, den sein Bierdecke! im Harzer "Fuhrmannsstübchen" gut gebrauchen könnte. Der Vorarbeiter hatte ihm nach dem dritten Korn versprochen, sich für den treuen Gerry einzusetzen. Deshalb haut jetzt der Getreue, beschwingt torkelnd, dem Friedhelm auf die Schulter und grölt ein „Auf Friedhelm! Auch schöne Grüße an die Kurgäste der Bergstadt!” während er schlingernd den Heimatkurs zu seiner Wohnung in der Hauptstraße antritt. In der Zwischenzeit hat der Leiter des
Männergesangsvereins, Bernhard Großbuhr, seine „Hohner
melodica” hervorgeholt und bläst den Mannern die Töne. „Aah”,
tönt es von vielen Seiten. Der Pfoschten tritt in tadelloser
Feuerwehr-Montur hervor und entzündet fachmännisch einen
Scheiterhaufen - da wird später eine Hexe verbrannt mit dem
Walpurgislied. Doch zunachst stimmt der Männergesangsverein
das alte Volkslied „Flamme empor!” an. Gerry Dunkel hört das
nur noch im Hintergrund. Das Rauschen der Oker übertönt die fröhliche Stimmung
aus dem Kurpark. Zu Hause angekommen hat seine polnische
Lebensgefährtin Franziska Meljarkowska dem Gerry Milchreis
vorgesetzt. Da ihm aber der Zimt fehlt, schließlich hatte er
bei seiner Familie Dunkel eine gute deutsche Küche genossen,
wie sie in Czernowitz Brauch war, da würzt er nach. Wozu steht
denn wohl die Streubüchse auf Esstisch? Im stillen ärgert er
sich doch über die Kochkünste seiner "Ehegattin“. Leise flucht
er vor sich hin: “die Pollacken können nicht richtig
kochen...” Doch er kennt seine Frau und weiß, dass sie sehr
grantig werden kann, wenn er am meckern ist. Darum unterdrückt
er seinen Groll und isst tapfer den Milchreis auf. Kaum, dass
er geendet hat, geht die Tür auf und Frau Meljarkowska
erscheint. “Haste mal wieder gut getankt, wie? Ich muss zahlen
nächste Rate von Kühlschrank, was sich ist kaputt. Ich habe
gesprochen mit Chef von Elektrogeschäft. Bin extra nach
Heinrichsthal gefahren. Ich ihm gedroht, mit nicht bezahlen
von nächste Rate und Du? Mal wieder versaufen nächste Rate!”
Gerry Dunkel weiß, was nun folgen wird. Er versucht, Herr der
Lage zu werden. „Franziska”, sagt er, „Du willst eine gute
Hausfrau sein? Rate hin oder her - aber ein Hausvater, der
unterernährt ist, kann Dir auch kein Geld geben. Ich musste
erst den faden Milchreis nachwürzen, damit er einigermaßen
bekömmlich ist. Wer im Glashaus sitzt...” Sie unterbricht ihn:
„Wer in der Kneipe säuft, soll nicht mit Bierdeckeln werfen,
ist es denn noch möglich? Wie hast Du nachgewürzt?” Gerry
erhebt sich schwer vom Stuhl. Die zahlreichen Pilse und
Kurzen, nach Schichtende, machen ihm schon zu schaffen. “Wenn
ich nicht die Würze hier zum Milchreis auf dem Tisch gehabt
hätte, wäre das ein Schlangenfraß. Du kannst ja nicht mal
Milchreis kochen, Du Schlampe!” Frau Meljarkowska schreit auf:
„Das ist keine Würze, das ist doch das Rattengift! Du bist ja
so besoffen, dass Du nicht mal die Etikette lesen kannst. Ist
sich das eine Schande!” So kommt es, dass Gerry Dunkel mit
einem Taxi in das Carlo-Brat-Hospital in Heinrichsthal
gefahren wird. Dort pumpt man ihm den Magen aus. Wegen seiner
guten Überlebenschancen nimmt man davon Abstand, ihn zu einem
klinischen Aufenthalt zu überreden. In der berühmten Kneipe
„Roemer-Ecke” wird er erst mal einen Trunk zu sich nehmen, um
seine Magenwände zu beruhigen. Den Heimweg tritt er zu Fuß an.
In diesem Augenblick beenden die „singenden Köhler"
das Kufsteinlied und nehmen die “standing ovations” der
Zuschauer entgegen. Friedhelm Klappka knallt nochmals mit der
Peitsche und handelt sich einige zusätzliche Klatscher ein.
Herr Klabinski ruft seiner begeistert applaudierenden Frau zu:
„Das ist doch endlich mal was. Keine Langhaarigen, die bei den
‘rolling stones’ unsere schöne Waldbühne auf dem
‘Reichssportfeld’ zu Kleinholz machen. Mal, so richtige
Volkskultur erleben - wie lange habe ich das schon vermisst!”
Frau Klabinski klatscht und lächelt: „Ja, Du hast ja so recht,
aber mir fällt gerade ein - wann wolltest Du eigentlich zum
Friseur gehen? Dein Haarkranz zeigt vereinzelte Fransen.” In
diesem Moment kommt der Onkel von Friedhelm Klappka
angeschwankt, er trägt eine Schirmmütze auf dem Kopf, die
etwas verwegen schief sitzt, und er schlingert auf Herrn
Klabinski zu. Der Onkel trägt den Spitznamen
“Jachter-Heinrich’, weil die Familie Klappka einen gewissen
literarischen Ruhm erlangt hat. Der berühmte Kunstmaler und
Heimatfreund August Schreinecker hatte dem Vater von Heinrich
ein Denkmal gesetzt. Jener Vater einer vielköpfigen Familie
traf sich auf einem seiner geliebten Waldspaziergänge des
abends mit dem Förster - doch dieses Mal war es der Hüter und
Pfleger des Waldes, der schneller schoss und traf. So kam es,
dass “Jachter-Heinrich” zwar ein Halbwaise wurde, aber
immerhin der Nachwelt erhalten blieb. Herr Klabinski beachtet
den neben ihm stehenden Heinrich nicht und seufzt: „Wo gibt es
denn noch so eine erdverbundene Liebe zur heimatlichen
Scholle! Das habe ich doch nur auf dem Fähnleinführer-Treffen
in Nürnberg erlebt, wo ich Dich kennenlernte und wo wir IHM
ins Auge blicken durften.“ Den Jachter-Heinrich stört das
nicht und er fragt Herrn Klabinski: „Haste mal ne Zarette?” Da
schüttelt Herr Klabinski angewidert den Kopf. Schließlich
raucht er seit Jahrzehnten nur Havanna Zigarren der Sorte
"Bahnhofstoilette Schöneberg“, sehr zum Ärger seiner Ehefrau
auch im Wohnzimmer. Das beeindruckt den Jachter-Heinrich
nicht, denn er antwortet ungerührt: „Na, denn nicht, dann
raach ich meine Eigenen.” Plötzlich verspürt er einen starken
inneren Drang, geht unsicheren Schrittes zum Scheiterhaufen,
aus dem erste Flammen züngeln und ruft laut:’Vater war aach
Feuerwehrmann. Vor seinem graasamen Tod hat er all gesaacht
‘Wu es brennt, muss all gelöscht werden.’ Das war ‘ne Lehre
fir mich!” Mit einem kräftigen Strahl strullt er in das Feuer,
leichte Dampfwolken steigen auf, die Flammen sind erloschen. Der Kurdirektor bekommt sein nervöses Augenlidzucken
und entschließt sich, das Programm abzuändern. Er flüstert mit
dem Dirigent der „Kellwassermusikanten" Der jedoch schüttelt
bedenklich seinen Kopf, auf dem ein Pinselhut thront, es ist
die Zierde der neuen Tracht der „Kellwassermusikanten”. Sie
haben diese fesche Tracht bei einem Fabrikanten in Oberbayern
gekauft. Der erste Vorsitzende, Jaroslaw Hajek, bestand
darauf, weil Heimatverbundenheit gerade durch eine urwüchsige
über Jahrhunderte gepflegte Tradition am besten durch die
Volkstracht ausgedrückt wird. Bei der Erinnerung an seine
Vertreibung aus den Sudeten standen dem 50jährigen die Tränen
in den Augen. So erfreuen sich die Musiker seit zwei Jahren
eines neuen Gewandes. Diese hören jetzt jedoch dem Dirigenten
zu, der sie zu einem anderen Musikstück überreden will. Nach
einigem Murren werden neue Noten ausgegeben. Der Kurdirektor
überbrückt die Zeitspanne mit der launigen Bemerkung über die
Schönheit der Landschaft des Harzes. „Kennen Sie die
Jahreszeiten im Oberharz? Wir haben 8 Monate Winter und 4
Monate keinen Sommer.” Er erntet nur spärliche Lacher. Dagegen
ist der Zwischenruf von Herrn Klabinski unüberhörbar. Er fällt
geradezu in eine meditative Pause. „Dafür haben Sie aber eine
saftige Kurtaxe! In Berlin gibt es sowas nicht.” „Arthur”,
zischt seine Frau, „kannst Du nicht einmal das liebe Geld
vergessen? Hier gibt es doch Kunst.” Jetzt ist Herr Klabinski
gereizt und flüstert erregt ihr zu: „Haben wir vielleicht in
Thumsenreuth Kurtaxe bezahlt? Die waren doch froh, dass da
überhaupt Gäste kommen. Blasmusik hattest Du da auch
reichlich.” Frau Klabinski ist die Situation peinlich, deshalb
sagt sie auch nichts, als nach vollendetem Geschäft
Jachter-Heinrich wieder auf ihre Plätze zusteuert. Ihr ist
unwohl, aber sie denkt, bloß nicht noch mehr Ärger
hervorrufen. Indessen sind die Noten nochmals ausgetauscht. Der
Kurdirektor tritt sichtlich nervös an das Mikrofon: „Sie sind
ein wundervolles Publikum. Wir haben heute einige der
treuesten Gäste unter uns. Es sind die durch die deutsche
Geschichte hart geprüften Landsleute - die Berliner. Deshalb
möchten wir sie extra herzlich musikalisch begrüßen.
Bekanntlich hat ja unsere Bergstadt sehr gute Beziehungen zu
dem herrlichen Stadtbezirk Neukölln. Unser Seniorenkreis wird
sich sicherlich gern an die schöne Reise in die Millionenstadt
erinnern. Pastor Schmalztorf zeigte Ihnen seine Kirche, wo er
als Konfirmand den ersten Segen empfing, die Rolltreppen des
Kaufhauses Wertheim bestaunten nicht wenige unserer Mitbürger.
Darum hören Sie als kleines “danke schön’ die Harzer Version
des weltbekannten „Sportpalastwalzers". Es spielen die
„Kellwassermusikanten”, die „singenden Köhler“ geben den
rechten Pfiff dazu und unsere berühmten Peitschenknaller
werden rhythmisch Sie in diese fröhliche Musik einstimmen.
Arthur Klabinski möchte am liebsten aufspringen, noch bevor
der Dirigent den Taktstock hebt, meint er: „Toll! Jetzt fehlt
eigentlich nur noch ‘Krücke’, dann ist alles wie zu Hause.”
Seine Frau schüttelt den Kopf: „Dieses Berliner Original ist
doch schon seit Jahren tot.” Das hört Heinrich, der die
Hoffnung auf eine Zigarette noch nicht aufgegeben hat und haut
Herrn Klabinski auf die Schulter: „Gibste mich ‘ne Zarette,
dann hole ich Dich all ‘ne Krücke!” Herr Klabinski ist
peinlich berührt, doch die Augen seiner Frau sagen ihm, dass
zum Einem die Musik begonnen hat, zum Anderen es besser wäre,
zu schweigen. Erstaunlich behände, trotz eines beträchtlichen
Alkohol-Pegels, geht Heinrich zu einem älteren, einbeinigen
Herren, der am Rande der vierten Reihe sitzt und seine
Gehhilfen an den Rand der Sitzbank gestellt hat. Obwohl der
Kurpark dicht besetzt ist, hat kein Besucher sich getraut, den
Rest der Bank für sich in Anspruch zu nehmen. Die
“Kellwassermusikanten” stoßen ins Horn, sie geben ihr Bestes -
da schnappt sich Heinrich eine Krücke und schreit: „Kriegste
gleich wieder, oder haste ne Zarette?” Der ältere Herr
antwortet: „Ich bin Nichtraucher.” Das stört aber
Jachter-Heinrich nicht besonders. Er antwortet souverän: “Na
denn nicht, dann musste all warten.“ Er schreitet zu Herrn
Klabinski und stampft mit der Gehhilfe den Rhythmus in den
Kies. „Ratatatata-zong“, die Peitschen knallen und die
singenden Köhler pfeifen, was die Lunge hergibt. In dem Hauptgang, zwischen den Bankreihen, begegnet
ihm die “Tiefbau-Gerda". Während der kleinen Programmänderung
hatte Friedhelm gebeten, ob sie nicht seinen Onkel nach Hause
bringen könne. Gerda wohnt in der Nachbar-Baracke von Heinrich
und empfängt ihn mit offenen Armen. “Heinrich, mein Mann lässt
Dich fragen, ob Du mit ihm nicht einmal sein
Geburtstagsgeschenk die neue Flasche „Allstedter Goldbrand“
probieren möchtest?” Heinrich wird würdevoll. Er wirft die
Krücke in das nächste Blumenbeet und antwortet ganz Herr der
Lage: „Gerda, du weißt, ich bin harter Gegner des Alkohols. Wo
auch immer ich ihn treffe - ich vernichte ihn auf der Stelle!”
Auf diesen originellen Scherz ist er besonders stolz, weil er
ihn mindestens dreimal pro Woche seinen Kollegen erzählt. Sein
Körper strafft sich, ganz Gentleman bietet er seinen Arm an um
„Tiefbau-Gerda“ beim Gehen zu stützen. So verlassen sie in
aufrechter Haltung den Kurpark. Pfoschten kennt das Programm in- und auswendig.
Nachdem er den Scheiterhaufen entzündet hat, bleibt ihm noch
eine Dreiviertelstunde, um dann die Stoffhexe auf die
brennenden Holzkloben zu setzen und während des Feuerwerks
verbrennen zu lassen. Darum geht er in der Zwischenzeit in das
„Fuhrmannstübchen“ um ein wenig zu quatschen. Die zweite
Herrenmannschaft hat ein Fußballspiel verloren, aber weniger
als zwei rote Karten kassiert, darum muss das auch gefeiert
werden. Etliche Runden „Lautenthaler Hüttenfeuer“ brennen in
seinem Magen. Da schaut er auf die Uhr. Es ist höchste
Eisenbahn. Außerdem braucht er mit Hinweis auf den
Heimatabend, keine Runde auf seine Kosten auszugeben. Mit
einem Mal stehen ihm die ohnehin nach oben aufgerichteten
Haare nun lotrecht zu seiner Schädeldecke. Unglaublich, das
Feuer ist erloschen. Die Gedanken überschlagen sich in seinem
Gehirn. Welche Schande, ihm als eifrigster Feuerwehrmann,
gleich nach Peter Posse - würde man ihm in Zukunft noch
zutrauen, ein ordentliches Feuer zu legen? Das kann er nicht
auf sich sitzen lassen. Darum läuft er schnell zu der Garage
seines Vaters, um sich von dort den Reservekanister für den
Rasenmäher zu besorgen. Im Kurpark schunkeln Hunderte
begeistert zu: „Ja, den Schnee-Schnee-Schnee- Schneewalzer
tanzen wir...” Pfoschten schleicht sich von der Hügelstraße an
die Konzertmuschel an. Dort haben seit Jahren die Feuerwerker
die Raketen und den Höhepunkt der Veranstaltung: den
Piskerhaller Wasserfall, aus Feuerwerkskörpern, aufgebaut.
Keiner stört ihn, als er den Inhalt des Benzinkanisters
gleichmäßig über das Feuerwerk ausgießt, weil die Fachleute
auch das ganze Programm auswendig kennen und sich lieber über
den Klassenerhalt des 1. FC Nordharingen in der Bezirksliga
unterhalten. Der Kurdirektor übergibt das Wort sehr förmlich
an die Schriftführerin der „singenden Köhler“, Christine
Strunz. In ihrem feschen Dirndl verkündet sie munter: „Jetzt
singen wir mal Alle gemeinsam. Wer sich drückt, kriegt morgen
kein Frühstück. Denn wir haben ja noch ein schönes Feuerwerk
zu betrachten. Selbst der Ministerpräsident von Niedersachsen
hat mit seiner Familie eine ganz erfolgreiche Schallplatte
aufgenommen. Vielleicht erinnern Sie sich noch. ‘Wem Gott will
rechte Gunst erweisen...’. Sie können die Platte am Ausgang
noch käuflich erwerben. Der Erlös kommt der “Albrecht-Thale
Stiftung” zugute. Damit sollen die Gerichtskosten für die
zahlreichen Prozesse bezahlt werden, die unser verdienstvoller
Landesvater nun durchleben muss, weil er die völlig
überflüssigen Erholungsheime der Gießerei Thale gewinnbringend
veräußern wollte. Schließlich hatte er ja ein wahnsinnig hohes
unternehmerisches Risiko übernommen, als er für eine einzige
D-Mark das marode Unternehmen von der Kabinettskollegin, die
ihre Karriere bei der Treuhand krönte, rechtmäßig erwarb. Sie
haben heute so begeistert geklatscht. Wir haben unser Bestes
gegeben, und Ihr Beifall ehrt uns. Darum bitten wir auch
unsere Losung zu unterstützen: „Leistung muss sich lohnen! Es
muss auch immer eine Elite geben - wir messen uns auch
jährlich mit anderen Harzer Vereinen im Jodelwettbewerb. Darum
überlegen Sie sich bitte, ob eine so schöne Schallplatte nicht
auch Ihr trautes Heim bereichern könnte. Frenetischer Beifall
krönt die so schlicht aber doch angreifend gesprochenen Worte.
Die „Kellwassermusikanten” intonieren das altbekannte
Volkslied. Kaum ein Auge, das trocken bleibt. Hingebungsvoll
erschallt: „Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt
er hinaus in die weite Welt.” Dem Pfoschten hat die Ansprache
nicht gefallen. Erstens weiß er, dass bei jedem Heimatabend
für die Schallplatte geworben wird, zweitens muss er das
Feuerwerk früher losgehen lassen, um für sich und seine
Kameraden deutlich zu machen, dass immer noch das Motto gilt:
“Feuerwehr - Retten – Löschen - Bergen.” Die Intonation des
Liedes ist ihm hochwillkommen. Er reißt einen Goldregen, der
noch von Silvester übrig geblieben war, an einer
Streichholzschachtel an und wirft den Feuerwerkskörper auf
seine Benzinspur. Bevor ein Angestellter der Feuerwerksfirma
reagieren kann, zischen Böller und Raketen in wilder
Reihenfolge in den Himmel. Erste Panik macht sich breit,
Schreie ertönen. Der Piskerhaller Wasserfall entzündet sich zu
früh, aber die ernstlich Verwundeten werden im
“Carlo-Brat-Hospital’, nach halbstündigem Eintreffen des
Krankenwagens und der fast ebenso langen Fahrt nach
Heinrichsthal, akkurat behandelt. Auf diese Darstellung in der
Lokalpresse legt der Samtgemeindedirektor, Dr. Michael Eiche,
äußersten Wert. Das wird auch detailliert von der Redakteurin
der „Öffentlichen Nachrichten“ Hildegard Müller-Sanchez,
einschließlich eines mit Herzblut geschriebenen Kommentars
wiedergegeben. In derselben Zeitungsausgabe werden Pfoschten
und Peter Posse als „Männer der ersten Minuten“ in ihren
angesengten Feuerwehrs-Uniformen abgelichtet. Sechs Monate
später erfahren sie besondere Ehrungen durch den
Kreisbrandmeister, anlässlich der Jahreshauptversammlung der
freiwilligen Feuerwehren des Kreises. Ein Jahr jedoch, nach diesem unvergesslichen Heimatabend, beschließt das Ehepaar Klabinski doch lieber nach Thumsenreuth zu fahren. Da gibt es keine Kurtaxe und die Verletzungsgefahr besteht höchstens in einem Wespenstich bei dem gemeinschaftlichen Brombeeren sammeln. Hin und wieder traut sich Herr Klabinski zu nörgeln: “Na ja, so wie bei uns in Tempelhof ist es ja nicht. Aber im Oberharz haben die sich wenigstens was von uns angenommen - die lernen hier vielleicht auch noch etwas dazu!”
|