Signal Sh2 - Haltscheibe auf dem Gleis der S-Bahnline Wannsee - Stahnsdorf
an der Grenze nach Westberlin








 zum Mithören hier klicken  






13. August 1961 in memoriam

Rückblick auf einen Sonntag von Stephan Ebers



Der zweite Sonntag im August des Jahres 1961 besaß nicht nur die Unglückszahl Dreizehn, sondern sollte auch ein historisches Datum werden. Doch davon ahnt die Familie Leschonke in Lichterfelde noch nichts. Familienoberhaupt Hermann Leschonke erhebt sich als Erster vom Frühstückstisch, als die Kuckucksuhr zwei Mal flötet. Es ist neun Uhr dreißig. Frau Hedwig Leschonke sammelt gewissenhaft die Schrippenkrümel von den Tellern auf das Tischkehrblech, während sie die Teller stapelt und zu den Tassen auf das Tablett stellt. Klaus erhebt sich als letzter. Er ist fünfzehn Jahre alt und bereits zu Ostern aus der Schule entlassen worden. Im September soll er im Versand der „Spinne Zehlendorf“ anfangen. Der Gestank dieser Fabrik ist an vielen Tagen auch in der über einen Kilometer entfernten Wohnung zu wahrzunehmen. Sein schüchterner Versuch die Genehmigung zum Treffen mit seinen Freunden zu bekommen, wird von Hedwig Leschonke abschlägig beschieden. “Du hilfst mir erst den Tisch abzuräumen und die Sachen in die Küche zu tragen. Dann räumst du dein Zimmer auf, Vati wird sich das ansehen hinterher und dann darfst du vielleicht nach unten gehen. Es wird jetzt Zeit, dass du Ordentlichkeit lernst. Nimm dir ein Beispiel an deinem Vater, der ist ein Muster an Ordentlichkeit und Disziplin. Sonst hätte er es nie zum Unteroffizier gebracht.” Das war natürlich gelogen, denn sie ärgert sich stets von neuem, wenn ihr Mann jeden Sonntag nach dem Frühstück seine Münzsammlung auf dem Wohnzimmertisch ausbreitet und seine Zigarrenasche über das feine Tischtuch ausstreut. “Das ist er aber jetzt nicht mehr”, gibt Klaus zur Antwort, “ außerdem hieß das doch Scharführer bei der SS”. Ärgerlich macht Frau Leschonke: “ Pscht! Das gibts doch gar nicht mehr, das heißt Unteroffizier. Merk dir das!” Hermann Leschonke war bereits auf dem Flur und hohl tönt es:” Das war eine Elitetruppe besser als die Wehrmacht, mein Sportsfreund, da hättest du richtig Ordnung gelernt. Sieh' zu, dass du dein Zimmer piekobello aufräumst, ich schau mir das an, dann kannst du verduften.” Klaus verzog sich in sein Zimmer, das neben der Küche lag.


Von der nahen Kirche läuten die Glocken. Sie rufen zum Hauptgottesdienst, den der Superintendent Stakenburg halten wird. Vereinzelt sieht man ältere Damen und die Gestalt eines hageren alten Mannes, der gemessenen Schrittes auf das Kirchenportal zugeht und von der gerade mit Noten beladenen Kantorin Stähr mit: “Guten Morgen Herr Oberst Duncker”, begrüßt wird. Der Angesprochene erwidert den Gruß und bemerkt leutselig: “Na, Fräulein Stähr, wieder schwer beladen mit Musik?” Kantorin Stähr nickt: “Ja, ich habe besonders für Sie ein sehr schönes Choralvorspiel herausgesucht zu “Oh Ewigkeit du Donnerwort”, aber haben Sie schon gehört, wir sind abgeriegelt, die Grenzen sind dicht. Keiner kommt mehr nach Ostberlin hinein oder wieder heraus.” “Ja, Frau Stähr, Sie meinen wohl eingekesselt vom Bolschewismus. Hab' es heute im Radio gehört und meine alte Kaserne, die Kadettenanstalt, wo jetzt die Amis drin sind, ist auch in Alarmbereitschaft. Habe es auf dem Weg hierher mit eigenen Augen gesehen. Hoffentlich keine Ewigkeit, sondern lieber ein Donnerschlag. Wenn die damals auf den Vorschlag von dem SS-Führer Wolff eingegangen wären, dann hätten wir den Iwan zurückgedrängt und Berlin wäre heute eine freie Stadt.” “Wie recht Sie haben Herr Oberst, ach da kommt ja der Herr Superintendent, ich muss mich um ihn kümmern, Sie verstehen.” Flugs wendet sie sich mit ihren fliegenden Notenblättern dem Geistlichen zu, der trotz der Sommerwärme in seinem Talar über den Platz geschritten kommt.


In dem Schneidereibetrieb im Nachbarhaus dagegen klingelt das Telefon. Ein Mitarbeiter des Senders freies Berlin bittet darum den Neffen Harald sofort ins Sendehaus zu schicken, da er für die aktuelle Berichterstattung dringend gebraucht wird. Die beiden Geschwister haben des morgens bereits aus dem alten Radioapparat die Nachrichten des RIAS gehört, bevor sie frühstückten und deshalb begreift die Angerufene auch sofort den Ernst der Lage, geht die Treppe nach oben und weckt durch Sturmklingeln den noch schlafenden Neffen. Seine Mutter ist mit dem kleinen Bruder auf der Insel Föhr, wo sie eine Saisonarbeit angenommen hat als Kaltmamsell im pompösen Nordsee-Kurhof, wo die Geschwister zuvor im Sommer einige Wochen zur Erholung verbrachten. Die älteste Schwester Emma Pansler muss wohl schon früh aus dem Haus gegangen sein. Nach einiger Zeit öffnet der Neffe die Tür und danach beginnt ein hektische Anziehen und kurze Zeit später verlässt der Fotograf und angehende Kameraassistent das Haus.


Hedwig Leschonke ist jetzt dabei das Geschirr abzuwaschen. Sie hat dazu das Radio angestellt und bei ihrem Lieblingssender ist gerade das Wunschkonzert mit Operettenmelodien. Die Nachrichten hatte sie extra leise gestellt. Dafür röhrt der Chor zu der Arie “Man muss doch ab und zu verreisen...” aus Clivia. Doch der Gesang wird von Klaus plötzlich unterbrochen:” Mutti, verreisen det kannste dir abschminken, die Grenzen sind dicht. Kommt keener mehr raus. Kam ehm in den Nachrichten uff RIAS I, haste nich jehört?” Hedwig vergisst ihn zu ordentlichem Deutsch zu ermahnen und ruft entsetzt:” Hermann komm mal schnell.” Klaus ist stolz auf das Kofferradio, was er von seiner Patentante aus Rochlitz zum Schulabschluss geschenkt bekam. Sie arbeitet dort im Volkseigenen Betrieb. Doch Rochlitz ist in der DDR und für Westberliner seit 1952 verboten dorthin zu reisen. Sie hatte es bei einem Treffen zu Ostern in Ostberlin ihm feierlich überreicht. Klaus berichtet gewissenhaft seinem Vater von dem soeben gehörten.

Das kam in den zehn Uhr Nachrichten.” Hermann freut sich innerlich über diese Nachricht, doch gefasst verkündet er: “Das muss ich gleich einmal mit den Kollegen beim Frühschoppen besprechen.” Hedwig Leschonke zweifelt:” Das hat doch auf euren Betrieb keine Auswirkungen, die Grenze geht doch durch den Teltowkanal.” “Das kannst du als Frau gar nicht richtig beurteilen. Wir wissen ja gar nicht, ob wir Niemandsland werden, wenn die da drüben mit Gewehren und Stacheldraht hantieren. “ “Mutti die Sendlinger Werke erstrecken sich doch bis zum Kanalufer, da müssen doch jetzt auch die Soldaten fahren können mit ihre Panzer.” Hedwig Leschonke ist noch nicht überzeugt: “Na ja, da ist was dran, aber Hermann sei um halb eins pünktlich, ja?” Hermann Leschonke betont seine Zuverlässigkeit und räumt in Windeseile seine Münzen vom Wohnzimmertisch. Die politische Lage interessiert ihn nicht, aber doch ist er dem Ulbricht dankbar, dass er dadurch einen ungeniert zur Brust nehmen kann.


Als Hermann Leschonke an dem runden Kirchbau vorbeigeht, ist aus dem Inneren nichts zu vernehmen. Offenbar findet die Predigt gerade statt. Er verspürt in der sommerlichen Wärme immer deutlicher den Durst auf ein kühles Helles und beflügelt seinen Schritt zum S-Bahnhof Lichterfelde-West, wo sich auf der anderen Seite seine Stammkneipe die “Hohenzollernburg” befindet.


In der Tat predigt Superintendent Stakenburg über die Gefangenbefreiung des Petrus in Kapitel Zwölf der Apostelgeschichte. Oberst Duncker ist ob der Rhetorik sanft eingenickt und träumt von der Gegenoffensive, die er aber mangels Kämpfern durch einen strategischen Fehler nie mehr wird antreten können. Kantorin Stähr auf der Orgelempore über dem Altar blättert in den Noten. Sie ist etwas verärgert, dass sie durch aktuelle Änderung der Predigt nun ein anderes Choralvorspiel wählen muss. Ausgerechnet für den Choral “Wach auf, wach auf du deutsches Land...”, wo es keine richtigen Vorspiele dafür gibt.


Ein anderer Gottesdienst hingegen ertönt aus dem Radioapparat in einem kaum vom Sonnenlicht durchfluteten Zimmer in der ersten Etage eines Backsteinbaus mit Efeu bewachsen, der zum “Nordsee-Kurhof” auf der Insel Föhr gehört. Eine alte Frau sitzt in einem abgeschabten Sessel mit verschossenen Blumenmotiven und lauscht andächtig. Auf einem Sofa, welches wohl zusammen mit dem Sessel einst eine Sitzgarnitur bildete, hockt ein siebenjähriger schlanker weizenblonder Junge und versucht seine Langeweile zu verbergen. Seine Mutter hatte ihn dort zurückgelassen, nachdem sie die Nachrichten um zehn Uhr verfolgt hatte. Bereits morgens in der Küche, währen der Zusammenstellung der Frühstückstabletts für die Gäste, waberten schon die wildesten Gerüchte über die aktuelle Lage in West-Berlin. Gleich nachdem das Frühstück beendet war, hatte sie sich aufgemacht in die Personaletage um bei der alten Dame, sie war die Schwiegermutter der Frau Sensendick, die aktuellen Nachrichten am Radioapparat zu hören. Allein das beruhigte sie ganz und gar nicht. Nun war die Telefonzentrale tagsüber mit Telefongesprächen so ausgelastet, dass das Personal nur zu bestimmten Zeiten abends die Telefonkabine betreten durfte um wichtige Telefongespräche zu führen. So bleibt ihr nichts anderes übrig, als es nach dem Abendbrot zu versuchen in der Hoffnung, dass der Andrang nicht zu groß sei. Als das Orgelnachspiel vom Rundfunksender ausgeblendet wird, ist auch der kleine Junge erlöst. Er verlässt das Haus über den Hintereingang, der Haupteingang ist den Gästen reserviert, die Sonne kommt etwas durch die Wolkendecke hindurch, beleuchtet den Innenhof, wo gegenüber dem Haupthaus sich eine Baracke erstreckt. Dort wohnen die anderen Mütter mit ihren Kleinkindern. Die Frauen arbeiten auf dem weit verstreuten Gelände, man darf nur bestimmte Wege benutzen, die durch das Ödland führen, wo kein Gast seinen Fuß hinsetzt. Die Frauen sind leicht zu erkennen, sie tragen alle eine weiße Trägerschürze zur dunklen Bluse. Einmal musste er ein Gespräch zwischen seiner Mutter und einer dieser Frauen anhören. Es war langweilig, doch irgendwann zwang ihn etwas genauer hinzuhören. Das Wort „unehelich“ hatte es ihm angetan. Seine Mutter reagierte unwirsch auf seine Frage und erklärte, dass seien Kinder, wo die Eltern in keiner Ehe leben würden. Die beiden Frauen sprachen dann über die unmöglichen Arbeitsbedingungen, den kargen Lohn und diese dunkelhaarige junge Frau mit ihrem dreijährigen Sohn erzählte, dass sie schon längst wieder in ihre Heimat gefahren wäre, wenn sie neben der Fahrkarte nicht auch noch den Vorschuss zurückzahlen müsste. Frau Sensendick hatte ihr von dem fürstlichen Gehalt vorgeschwärmt und sie hatte den Vorschuss gern angenommen. Doch das Inselleben ist teuer und am Ende rettet nur der ausstehende Lohn über die letzten Tage hinweg. Der Vorschuss hängt am Bein wie eine Fußkette mit Eisenkugel.


Der Junge läuft jetzt auf den frisch gegossenen Wegplatten entlang. In einer Platte sind zwei Buchstaben eingelassen. Anfangsbuchstabe von seinem Vor- und dem Nachnamen. Der Maurer, der ihn gern mochte, hatte diese mit der Maurerkelle in den frischen Estrich gemalt. Obwohl es ihm verboten ist, weicht er von dem Schlackenweg ab und geht vorsichtig den geharkten und an den Rändern säuberlich gemähten Parkweg entlang. Rechts und links sind versteckt zwischen Tannen und Kiefern kleine Holzhäuser mit Veranda. Er weiß, dass am Ende des Weges links ein Pfad abzweigt, der zu einem Haus führt, welches nicht belegt ist. Dort treffen sich die Älteren auf der überdachten Veranda. Seine Ahnung bestätigt sich. Dort auf der Bank sitzt der sechs Jahre ältere Marten Romka. Er verbirgt sein Gesicht mit den Händen, achtet gar nicht auf den kleinen Jungen, der ihn an der Schulter berührt und sich erschrickt, weil der starke große Marten weint. Er setzt sich zu ihm legt seinen Arm um die Hüfte von Marten und hört einfach nur zu, was an verständlichen Worten neben dem Schluchzen zu entnehmen ist. „Wir können nicht mehr zurück. Nie wieder. Ich will nach Hause.“ Der Junge antwortet vorsichtig: „Du meinst Leipzig?“ Marten nickt: „Mutter hat gesagt, dass wir hier bleiben müssen, in diesem Scheißsanatorium, ich sehe meine Freunde nie wieder.“ „Vielleicht bleiben wir auch hier, denn Berlin ist abgesperrt. Dann sind wir doch schon zusammen zwei Jungen.“ Das kann Marten nicht trösten. Er jammert, dass er lieber in das Ferienlager der jungen Pioniere gefahren wäre, anstatt den ganzen Tag hier auf dem Gelände herumzustreunen. Das bringt den kleinen Freund auf die Idee. Er will Marten aufheitern und ihm fällt das olle Haus in der Nähe vom Golfplatz ein. „Du, ich habe da so ein wildes Gehöft gesehen. Das sieht aus wie eine Ruine aus dem Krieg. Lass uns das mal untersuchen.“ Marten willigt ein , zieht sein Taschentuch aus der Hose und schneuzt sich. „Besser als hier rumsitzen“, meint er. Wenig später sieht man das ungleiche Paar auf den breiten Weg zum Strand gehen, wo eine Pforte vor der Deichpromenade ein Wassertretbecken mit einer Standbrause versehen, den weiteren Zutritt zum Privatstrand versperrt. Die im Wattenmeer badenden Gäste sollen das Salzwasser von ihren Körpern dort abspülen können. Neben der Pforte ist ein Schild aufgestellt mit folgender Aufschrift: „Zugang nur für Gäste! Unbefugte werden angezeigt.“ Unterschrift: „die Geschäftsführung I. Sensendick“ Dort befindet sich auch tagsüber ein Aufpasser, der zuerst die Stirn runzelt, weil zwei Jungen den Gästeweg entlang kommen, sich jedoch schnell wieder einer Dame mit knappen Bikini zuwendet, denn die Jungen verschwinden vor dem Zaun auf den Personalweg Richtung Ödland. Mageres Gras, vereinzelte Büsche lassen hier eher eine Prärie vermuten, doch nach etwa fünfzig Metern taucht ein windschiefes alleinstehendes Gebäude auf. Eine Fensterscheibe ist schon zerschlagen. Marten greift fachmännisch durch das Loch, entriegelt das Fenster und im nächsten Augenblick verschwinden sie in dem Haus. Es ist innen völlig leer. Niemand ist in der Nähe, der wenig später bezeugen könnte, dass jauchzende Jungen mit Steinen die Fenster in der Außenveranda einwerfen, so als wollten sie ein trennendes Hindernis aus der Welt räumen.


Martens Mutter dagegen steht mit der Mutter des Kleinen vor der Wäscherei. Sie ist eine dunkelhaarige vollschlanke, resolute Person. Daneben nimmt sich die andere Mutter eher als zart aus. Doch sie sind ins Gespräch vertieft. Frau Romka stellt fest: „ Ich habe nischt anderes erwartet. Hab schon lange darüber nachgedacht, ob ich wegmache. Doch für die D-Mark, hier hart erarbeitet, kann ich viele schöne Sachen bei uns kaufen und meine Mutter habe ich auch noch.“ „Das sagt sich so leicht, Frau Romka. Ich habe meine ganze Familie in Berlin und meine Rente als Kriegerwitwe, wenn ich hier zuviel arbeite, ist die auch weg. Ich weiß gar nicht wie das werden soll. Hier arbeiten will ich auch nicht mehr. Das ist ja erniedrigend, obwohl wir von der Frau Sensendick noch mit Vorzug behandelt werden, weil meine Tanten hier Gäste waren.“ Frau Romka antwortet verständnislos: „Arbeit gibt’s doch genug. Sie müssen ja nicht auf der Insel bleiben und ohne Arbeit wird es auch überall schwer sein. Sogar bei uns in der DDR.“ „Für Sie ehemalige DDR, Frau Romka“, korrigiert die sich angegriffen fühlende Mutter. Frau Romka bleibt unerschütterlich: „Sie sagen es, ich werde hier auch keine Wurzeln schlagen, aber Hamburg und Kiel sind nicht weit, da findet sich was. Das Gute ist ja, wenn ich jetzt nicht zurückgehe, dann bin ich auch kein Republikflüchtling und meine Mutter hole ich nach. Das geht ja, haben Sie mir ja erzählt mit Ihrer Tante aus Seegrehna.“ „Ja, das stimmt, ich werde heute Abend anrufen und hören, was da los ist, vor allem mein älterer Junge ist ja beim Fernsehen, der weiß viel mehr.“ Letzteres spricht sie überdeutlich aus, gewissermaßen eine kleine Rache für die Zumutung jede Arbeit annehmen zu müssen. „Da bin ich auch gespannt, was Sie dann zu berichten haben“, beschließt Martens Mutter das Gespräch und verschwindet in der Wäscherei, die auch am Sonntag ihre Dampfschwaden aus allen Luken und Türen ins Freie entlässt. Am Abend gelingt gegen acht Uhr ein Ferngespräch nach Berlin. Der ältere Sohn Harald ist von den Dreharbeiten an der Sektorengrenze zurückgekehrt, die Stimmung sei gefährlich aufgeheizt berichtet er, die Interzonenzüge würden vom Bahnhof Zoo noch fahren und kämen da auch an. Doch sei noch manches ungewiss, denn die S-Bahnen in Westberlin würden an der Stadtgrenze enden. Seine Mutter beschließt sofort zu kündigen, sich den Restlohn auszahlen zu lassen und davon die Fahrkarten und Schiffspassage Richtung Heimat zu bezahlen. Der kleine Junge liegt im Bett und träumt davon auf der Insel zu bleiben und mit Marten gemeinsam jeden Winkel zu erkunden.


Frau Leschonke wäscht das Abendbrotgeschirr ab und lauscht einer Arie aus dem Land des Röchelns von Franzl Pläarr, welches der RIAS als Aufzeichnung aus dem Titaniapalast überträgt. Herr Leschonke freut sich auf den Montag, denn die Grenzschließung wird der Gesprächsstoff sein und bei dem Frühschoppen in der „Hohenzollernburg haben sie schon genau geplant, wie sie mit Hilfe der Amis aus der benachbarten Kaserne des alten Telefunkenwerkes die Grenze im Teltowkanal niederreißen und das andere Ufer erobern werden und sie so zu verdreschen, dass den Zonenvopos Ulbricht und Chruschtschew vergeht. Ärgerlich sind nur seine Kopfschmerzen und die leichte Übelkeit, doch morgen ist ein wichtiger Tag und der wird abschließend damit gekrönt werden meisterlich getarnt vom Küchenfenster aus mit dem Feldstecher in die im Nachbarhaus eine Etage tiefer gelegenen Räume der Schneiderei zu schauen, wenn die jungen Näherinnen sich dort umziehen. Hermann Leschonke hält auf Anstand und Ordnung, wenn es sein muss mit harter Hand.


Die Glocke im Kirchturm läutet wie jeden Tag um sieben Uhr den Abend ein. Vom amerikanischen Bahnhof ertönt der Pfiff einer Lokomotive, hin und wieder fährt ein Jeep mit aufgepflanztem MG durch die Straßen des Villenvorortes, am Vierten Ring einem knapp fünfhundert Meter breiten Teilstück der großen Ringstraßen, die einst von Albert Speer und seines von ihm verehrten Führers die geplante Hauptstadt „Germania“ umfassen sollten, exerzieren wie jeden Sonntag amerikanische Soldaten auf der überdimensionierten Fahrbahn. Die Einmündungen am Osteweg und der Goertzallee sind von Panzern versperrt, deren Geschützrohre sich martialisch zum Teltowkanal richten. Das Szenario ist bei den Kindern beliebt, die sich am Straßenrand einfinden. Alles besitzt eine innere militärische Ordnung – die Freiheit Westberlins wird wie immer verteidigt.


Die blaue Stunde in Berlin am 17. August 1961, Oskar Loerkes Gedicht beschreibt Jahrzehnte zuvor treffend das Geschehen um den Bahnhof Zoo, als der Schnellzug D 1065 gegen halb zehn Uhr abends auf dem Bahnsteig B aus Hamburg-Altona einfährt. Die Zwischenhalte Ludwigslust und Wittenberge hatte der Zug seit dem Sonntag ausgelassen und dafür auf freier Strecke an einer Ausweichstelle gehalten. Davon berichtet der Enkel von Emma Pansler ganz begeistert, wie schön ein Hahn an dem Streckenwärterhaus krähte und die Bahnschwellen in der Wärme nach Teer dufteten. Doch die Oma hat kein Ohr dafür, sie redet auf ihre Tochter ein, beruhigt sie, dass alles halb so schlimm wäre und sie erst einmal eine Taxe nehmen würden um nach Hause zu fahren. Langsam senkt sich die Nacht, der Junge liebt diese nächtlichen Fahrten durch die Schloßstraße mit den Leuchtreklamen, fast hat er schon die Insel vergessen, denn die Schloßstraße ist tagsüber ein Gräuel, wenn die Auspuffgase ihm das Atmen schwer machen und die Sommerhitze zwischen den hohen Häusern steht. Emma Pansler berichtet gerade, dass sie mit einem Passierschein gestern in Ostberlin die Frieda besucht habe. Da wäre es so wie immer, nur müsse man anstehen wegen des Passierscheines. Ihre Tochter fragt jetzt nach ihrem Sohn, was der so von den Vorgängen an der Grenze gefilmt hat. Emma Pansler kann nur von einigen Ausschnitten erzählen, die sie bei Berta Gottschlich mit ansehen durfte, denn sie besitzt ja ein Fernsehgerät.


Die nächsten Tage vergehen mit aufgeregten Reden in Radiosendungen. Die Westberliner Zeitungen überschlagen sich mit fetten Schlagzeilen, die dem jüngsten Enkel von Emma Pansler wenig sagen. Doch bleiben einige Ausdrücke fest im Gedächtnis haften. Mit seinem Freund Franz, der bei seiner Uroma zwei Häuser weiter lebt, spielt er Grenzübergang, auf den Asphalt der ruhigen Pfleidererstraße ziehen sie eine weiße Linie mit einem Kalkmörtelbruchstück quer über die Fahrbahn. Der Panslerenkel schreibt „Schandmauer“ daneben. Es treffen weitere Kinder aus der Nachbarschaft ein, was der Ehefrau des Weinhändlers, die in der arisierten Villa mit Remise residieren und den Mercedes gut sichtbar auf der Straße parken, die Zornesröte ins vertrocknete Antlitz treibt.

Jetzt wird an der Schandmauer der „Scheckpeunt Scharlie“ eingerichtet. Emma Panslers Enkel kennt Schecks aus der Schneiderei seiner Tanten. Die werden auch eingelöst, erklärt er. So müssen jetzt ordentliche Ahornblätter als Scheck an der Grenzkontrolle vorgewiesen werden, die scharf bewacht von Vopos ist. Die Jungen habe sich extra große „Stöcker“ besorgt, die sie als Maschinenpistolen einsetzen und sie kontrollieren gründlich, so wie ein echter Berliner es bereits mit der Muttermilch eingesaugt.


Die eine Tante wird bei dem Verlassen des S-Bahnhofs von einem Demonstranten angepöbelt, weil sie Ulbrichts S-Bahn benutzt hatte. Unter den Hausfrauen, die sich immer wieder angeregt vor Geschäften oder an Straßenecken versammeln, wird diskutiert, ob man Ostwaren kaufen sollte. Das etwas in die Jahre gekommene Kaufhaus Held ist dabei der Spitzenreiter, weil er nur „gute“ Westwaren im Angebot haben soll. Die Ehemänner dagegen in den Eckkneipen entwerfen bei dem Skat dreschen oder Kegeln völlig neue Strategien, wie man ein für allemal mit dem ganzen Osten aufräumt. Sie gewinnen den zweiten Weltkrieg neu, zusammen mit den Amis und marschieren durch bis Pommern. Diese Ideen haben keinen Bestand, auch wenn der Blumenhändler Schulte im West-Bazar am S-Bahnhof an diesem Tag mit seiner politischen Meinung Hochkonjunktur hat. Hermann Leschonke nennt ihn den „Goldfasan“, weil der arische Blumenhändler bereits vor Hermann in die NSDAP eintrat und Wahlkampf machte, während der Herr Leschonke erst später zum Parteigenossen und Scharführer der SS aufstieg. Das hindert sie aber beide nicht daran laut zwischen Nelken und Geranien die aktuelle Lage „sachlich“ und „endgültig“ zu lösen.


Im RIAS verliert „der Insulaner die Ruhe nicht“, obwohl angesichts der Umschließung von Westberlin nichts anderes übrig bleibt, als ruhig das Schicksal zu erdulden. Konrad Adenauer hatte dem sowjetischen Botschafter versichert, dass die Bundesrepublik keinesfalls die Beziehungen zur Sowjetunion gefährden wollte. Das Mäcki-Trio trällert zu dem Kollo-Schlager „Wenn erst mal 'Untern Linden' die Bäume wieder blühn...“ die recht interessante Hymne: „Wenn erst mal 'Untern Linden', die alten Fahnen wieder wehen...“

Das schmettern auch der Blumenhändler Goldfasan und SS-Scharführer Hermann Leschonke mit den anderen Stammtischbrüdern in der „Hohenzollernburg“.


Am nächsten Sonntag ist die Ruhe wieder hergestellt. Die Mauer steht und wird als Filmkulisse gute Dienste leisten. Fluchttunnel und erschossene Flüchtlinge, gelegentliche Schießereien mit Kollateralschäden sorgen für mediale Höhepunkte und die Holztribünen

am Brandenburger Tor und der Bernauer Straße werden touristische Anziehungspunkte. Unzählige Schulklassen werden in den nächsten Jahren aus allen Teilen der Bundesrepublik die beliebte Reise „4 Tage Berlin inklusive Mauerschau“ absolvieren, wie es die Zeitschrift „Publik“ pointiert schrieb. Fragt man die jungen Menschen, so werden sie strahlend davon berichten wie toll es im „Big Apple“ war. Der Bildungsbürger hingegen schwärmt dann lieber vom Nachtleben und dem verrufenen „Chez Nous“, wo ja echte Schwule ihr frivoles Treiben ungeniert vor den Gästen darbieten.


Dann sind doch die Kegelclubs aus Castrop oder Wanne-Eickel ehrlicher, die bei dem obligatorischen Ostberlinbesuch dank schwarz getauschter D-Mark in Mark der DDR einen echten Ostpuff mit heißen Weibern zu ebenso heißen Preisen aufsuchen.

Der 13. August 1961 war ein Sonntag, der tatsächlich drohte die Bürgerruhe in dieser Weltstadt zu erschüttern, sich aber dank umsichtiger Politiker hervorragend in die Fortschreibung der Berlin-Geschichte integrieren ließ, weshalb die dadurch wachsende touristische Bedeutung den sich anschließenden Räumungsverkauf von abwandernden Unternehmen verschmerzen ließ. Aus dem einst von Ernst Reuter beschworenen „Berlin als billigste Atombombe“ wurde die teuerste Investitionsruine einer gescheiterten Bundespolitik und der Ideologie eines psychopathischen Antikommunismus.


 

zur Startseite