das Altarbild



nach einer wahren Begebenheit in einer West-Kirchengemeinde der Nachwendezeit

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Im Jahre 1994, fünf Jahre nach erfolgreichen Montagsdemonstrationen, einer Wiedervereinigung mit ebenso erfolgreicher Baukonjunktur in Ostdeutschland, hat Pastor Holz eine Vision. Das ist bei Mitgliedern des geistlichen Standes nicht unüblich, aber doch nicht sehr en vogue. Schließlich bedeutet moderne theologische Basisarbeit, die Organisation von Seniorennachmittagen, Lampionumzügen für die Jüngsten aus der Krabbelstube inclusive Grillabend und Glühwein für die lieben Eltern, oder Teilnahme an workshops zur ganzheitlichen Gottesdiensterfahrung aus der Sicht von Mutter Göttin. Für Eingebungen höherer Art bleibt wenig Zeit.


Doch Pastor Holz ist erfüllt von einem Busausflug mit den Konfirmanden in das thüringische Bad Frankenhausen. Dort einmal die Bauerkriegsproblematik hautnah zu erfahren, das war doch ein Thema, das auch junge Menschen interessieren dürfte. Der Rundbau, aus Stahlprofilen unverhüllt den Charme der DDR-Architektur der ausgehenden achtziger Jahre entblößend, vom werktätigen Volk eher respektlos als „Elefanten-Klo“ bezeichnet und von Margot Honecker persönlich eingeweiht, beeindruckt ihn sehr. Maler Tüte hat mit seinen Jüngern das größte Gemälde der Welt erschaffen. Das Bauernkriegspanorama. Sicherlich ein anschaulicher Geschichtsunterricht. Während der Führung werden eindrücklich Details erläutert. So etwas liebt Pastor Holz. Bildmeditationen geben eine gute Predigt ab. Als die Konfirmandengruppe in den Bus steigt, um nach Kunstgenuß leiblichen Genüssen in einer „Hamburger-Braterei“ zu frönen, die in Nordhausen-Bielen sogar ein "Essen mit Spaß" versprechen, was die Jugendlichen als absoluten Höhepunkt der Fahrt preisen, entsteht vor seinem geistigen Auge das schon so lange Herbeigesehnte. Wie oft hatte er sich schon über die nackte Wand hinter dem Altar geärgert. Ein Altarbild, als lebendige Predigt, müsste dort prangen. Befriedigt lehnt er sich in seinen Autobussitz zurück, um wenig später die Frotzeleien der Konfirmanden mit dem Absingen des Liedes: "Ein feste Burg ist unser Gott" wenigstens für einen Augenblick zu unterbinden.


Die Kirchenvorstandssitzung verspricht nichts Aufregendes. Mögliche Reibungspunkte sind in persönlichen Vier-Augen-Gesprächen bereits aus der Welt geschaffen worden. Der Männergesangsverein darf seine Weihnachtsfeier in den Räumen des Gemeindehauses abhalten. Der gewichtige erste Baß dieses Chores verspricht in seiner Eigenschaft als Kirchenvorsteher dafür Sorge zu tragen, dass anschließend gut gelüftet und die Bierflaschen eingesammelt werden, so dass am nächsten Tag sich die Gruppe: "Mütter stillen für Äthiopien" in einer rein schwingenden Atmosphäre versammeln kann. Der Geistliche setzt einen weiteren Tagesordnungspunkt auf die Liste. "Altarbild und unsere Brüder und Schwestern in Ostdeutschland". Die Sitzung verläuft vielversprechend. Es herrscht eine christliche Duldsamkeit. Verlegenes Räuspern, verhaltenes Dösen und heimlicher Blick auf die Uhr deuten einen umfassenden Konsens an. Da berichtet der Pfarrer von seinem letzten Gespräch mit dem Künstler Tüte. Das Kopfnicken der Zuhörer zeigt Kennerschaft an. Er unterstreicht die Bedeutung des Malers, denn Tüte und seine Kollegen Masthäger, Sittich und Heißmann waren schon vor Jahren auf der „documenta“ in Kassel vertreten. Er entwickelt seine Vision zu einem eindrucksvollen Gemälde an dieser kahlen Wand. Ja, die Besucher des Bergbau-Museums könnten anschließend zur Kirchenbesichtigung eingeladen werden, um ein Werk dieses weltbekannten Künstlers zu bewundern. "Kirche ist auch Heimat wahrer Kunst! Ist Glauben eine Gnade, so erfährt Kunst seinen Gehalt vom Können!" Der Vorsitzende des Kirchenvorstandes ist Bauingenieur. Er zweifelt: "Gibt das die Statik denn überhaupt her?" Pastor Holz zitiert das neue Testament. "Oh, Ihr Kleingläubigen", hört man ihn sagen. Außerdem habe sich niemand Gedanken gemacht, ob das Kreuz, an das Jesus Christus genagelt wurde, auch stabil war. Frau Schwertreich-Lippingsfeld, als engagierte Grundschullehrerin bekannt, wirft ein: "Ich möchte schon wissen, ob das Bild auch mit umweltverträglichen Farben gemalt wird. Für mich bedeutet Kirche ein sich Zurückbesinnen, da kann ich kein Cadmium dulden." Der Pfarrer versichert, dass die hohe Professionalität des Künstlers dafür bürge, dass nur ausgesuchte ungiftige Materialien den Weg in diese Kirche fänden. "Sie Alle wissen, welchen Weltruf der Maler Tüte besitzt. Es ist unsere Pflicht auch etwas zur Wiedervereinigung beizutragen. Es geht ja auch um Arbeitsplätze." Lange hatte Herr Poths geschwiegen, doch jetzt wird er skeptisch. " Wir haben auf der letzten Tagung der Filialleiter unseres Bankhauses die neuen wirtschaftlichen Herausforderungen unserer globalisierten Welt besprochen. Arbeitsplätze rechnen sich nur, wenn sie auch bezahlbar sind. Ich weiß selbstverständlich um die Qualität von dem Maler Tüte, schließlich sponsort unser Institut auch die Talente in unserer Region. Obgleich ich gestehen muss, dass mir ein Bild von ihm nicht direkt vorschwebt. Aber wir haben doch in der letzten Passionszeit so ein buntes Hungertuch aus Guatemala aufgehangen. Es war eine echte Indio-Arbeit. Der Preis dafür war doch ausgesprochen attraktiv. Wenn wir einen Wandbehang vielleicht zum Doppelten des Hungertuches erwerben würden, dann hätten wir doch etwas für die dritte Welt getan und gleichzeitig kostengünstig gehandelt. Es steht doch in der Bibel, dass man mit den Pfunden wuchern soll."


Pastor Holz erstarrt: "Sie dürfen doch Äpfel nicht mit Birnen vergleichen. Hier handelt es sich nicht um eine Auftragsarbeit mit gesellschaftlichem Hintergrund. Da steckt die tiefste Intention des Künstlers hinter. Ich bin bereit, dafür den Ausbau der Orgel zurückzustellen!" Ein Aufatmen geht durch die Reihen der Kirchenvorsteher. Der Vorsitzende meint: " Ja, wenn das so ist, für den Gemeindegesang reicht die Orgel allemal. Aber, wenn ich daran denke, daß unsere Kirche von tausenden Besuchern besichtigt wird, gegen geringes Entgelt, nur um ein Kunstwerk zu besichtigen, dann rechnen Sie auf mich, Herr Pfarrer." Die Abstimmung ergibt eine überwältigende Mehrheit für das Projekt "Altarbild".


Am folgenden Tag liest der Organist und Lehrer Marcel Grasdorf den Artikel im "Allgemeinen-Anzeiger" über die so bedeutende Kirchenvorstandssitzung. Ihm bleibt das Brötchen im Halse stecken. Seine Frau überredet ihn, wenigstens einen Bissen zu sich zu nehmen, damit seine Schüler nicht ausbaden müssen, was er jetzt zum Besten gibt. In der Schule beherrscht er sich bis zur großen Pause. Dort trifft er im Lehrerzimmer Frau Schwertreich-Lippingsfeld. Trotz zahlreicher Gruppengespräche in der Initiative "Motivation durch innere Gelassenheit" poltert er los: "Was habt Ihr denn da gestern beschlossen. Das ist ja eine Riesensauerei!" Seine Kollegin wehrt ab: "Marcel, Du kennst doch die Presse, aber willst Du immer vor zehn Leuten die Orgel spielen?. Ich denke, wenn unser Altarbild Unmengen von Besuchern anzieht, dann kannst Du ja auch dazu die Orgel erklingen lassen. Als multimediales Ereignis, gewissermaßen. Was möchtest du denn? Diese Handvoll Gottesdienstbesucher mit deiner Musik volldröhnen, oder gemeinsam mit uns Menschen betroffen machen, die nicht hinausgehen werden, um ein Geldopfer darzubringen?" Marcel Grasdorf wird noch erregter: "Ich habe lange dafür gekämpft, dass die Pedaltürme des barocken Orgelprospektes mit Pfeifen wieder gefüllt werden. Ihr habt doch selbst gesagt, es wäre unrecht mit einer Barockorgel zu werben, wo nur noch das Holzgehäuse original ist und der eigentliche Klangkörper vor zehn Jahren zum letzten Male neu aufgebaut wurde. Keiner von Euch hat dagegen etwas gesagt, als ich das 'Etikettenschwindel' nannte. Die Mittel zur Fertigstellung sind bewilligt und Ihr wollt die jetzt elegant umschichten." Seine Kollegin vergisst ihre innere Gelassenheit und zischt: " Du weißt ganz genau, daß wir jahrelang Spenden von unseren Gemeindegliedern zur Wiederherstellung der Barockorgel gesammelt haben. Diese Leute möchtest Du vor den Kopf stoßen, indem Du von Etikettenschwindel redest. Du bist mir ein schöner Christ. Wir haben im Kirchenvorstand geschwiegen, weil uns die Menschen in der Kirchengemeinde nicht egal sind. Wir dürfen sie nicht verletzen, außerdem habe ich schon lange vorgeschlagen in die Pedaltürme Zimmerlinden zu stellen. Dann besitzen die Hohlräume sogar einen ästhetischen Reiz." Marcel Grasdorf setzt eine Miene auf, als ob er sofort explodieren möchte. Doch dann geht schlagartig eine Wandlung in ihm vor. Er lächelt freundlich, aber seine Stimme ist nicht ohne Schärfe: "Dann erzählt Euer Kirchenführer womöglich noch, die Pedalpfeifen hätten die Amerikaner nach Kriegsende entwendet, wie den Altar. Denn diesen Bären bindet er ja jetzt bereits den ahnungslosen Touristen auf." Frau Schwertreich-Lippingsfeld zuckt mit den Schultern: "Ist das denn so wichtig? Meinst Du denn nicht auch, daß nur Fachleute merken, daß unsere Orgel nicht ein völlig originales Werk aus dem Barock ist? Es kommt doch darauf an, was fühle ich bei den festlichen Klängen? Wir haben doch auf der Rüstzeit über die Frage: 'Was ist Wahrheit?' diskutiert." "Sehr originell", betont der Organist, " wie die unnachahmliche Malweise des Herrn Tüte, den Du bestimmt sehr gut kennst." Frau Schwertreich-Lippingsfeld giftet: "Worauf du dich verlassen kannst!" Sie möchte dem gern noch etwas hinzufügen, aber der Pausengong ertönt, das Lehrerzimmer leert sich allmählich.


Gegen Mittag tritt Marcel Grasdorf wütend in die Pedale. Er denkt: "So etwas darf es nicht geben." Er schüttelt den Kopf. Seine Frau kommt nicht aus dem Lachen heraus. Das macht ihn nur noch wütender und man hört ihn in seinem Arbeitszimmer, wie er mit Grunzlauten seinen Computer bearbeitet.


Zwei Tage später erscheint ein Leserbrief im "Allgemeinen Anzeiger". In dürren Worten wird der Werdegang des Malers Tüte geschildert. Zu lesen sind Schlagworte "sozialistischer Realismus" und „Parteimaler“. Es fehlt auch nicht der Hinweis auf einen historisierenden Kolossalschinken mit dem Titel „Arbeiterklasse und Intelligenz“, auf welchem von Tüte als Huldigung auch die Parteibonzen einschließlich des Genossen Paul Fröhlich, der verantwortlich für den Abriss der Leipziger Universitätskirche war, abgebildet sind. Unverhohlen wird die Frage gestellt, was ein Künstler wohl für sakrale Kunst empfindet, der im Dienste einer absolut antikirchlichen Ideologie, nach Verschwinden Jener, sich einen neuen Kundenkreis sucht. Von schnödem Mammon ist die Rede, es fallen hässliche Worte wie "volkseigener Blut und Boden". Die Redaktion kürzt den Brief nicht, denn es verspricht doch ein lokaler Knüller zu werden, mit allem Respekt vor dem Superintendenten, dem Standortältesten der Bundeswehrgarnison und dem Vorsitzenden des Gewerbevereins. Vorsorglich lässt der Chefredakteur kritische Kommentare auf Halde schreiben.


Pastor Holz hat etwas mit dem Magen. Jener schlägt auch sogleich Kapriolen. Der Pfefferminz-Tee bringt auch nur temporäre Entspannung. Das Telefon klingelt und der Superintendent verlangt nach Aufklärung. Was er über den Künstler Tüte wisse, wird er gefragt. Zerknirscht gibt er zu, dass er sich dafür nie vorher interessiert habe. Er wäre eben von den theologischen Auslegungsmöglichkeiten so begeistert gewesen, dass er ästhetische Gesichtspunkte außer Acht gelassen habe. Kunst in der Kirche besäße ja auch einen eindeutigen Auftrag. Das sieht der Superintendent ein und mahnt: "Dann bringen Sie Ihren renitenten Organisten zur Räson. Bei der gegenwärtigen Diskussion der Haushaltslage muss ich Geschlossenheit verlangen. Aber, ich verlasse mich auf Sie!"


Pastor Holz lädt den Kirchenmusiker zu einem vertrauensvollen Gespräch ein. Es endet mit einer Dissonanz. Schweren Herzens entschließt er sich das Fräulein John zu fragen, ob sie nicht in Zukunft des öfteren die Orgel spielen wolle. Spitz bemerkt die Angesprochene: " Es freut mich, dass Sie sich an mich erinnern. Solchen hitzigen Temperamenten entsprechende Zügel anzulegen, erfordert auch gewisse Fertigkeiten, die ich bei manchem Geistlichen vermisse. Aber kein Mensch ist vollkommen. Ich finde ein schönes Altarbild regt auch zum wahren Glauben an. Außerdem hat meine langjährige Freundin, die pensionierte Leiterin des Sozialamtes mir letztlich wieder gesagt, dass unsere Orgel viel zu laut ist. Stellen Sie sich vor, ein Hörgerät, was ja durch die neue Technik immer komplizierter wird, ständig regeln zu müssen. Das ist doch eine Zumutung. Der Herr Grasdorf besitzt ein ungestümes Temperament. Seine Präludien stimmen nicht besinnlich, sie haben so etwas Aggressives, na die jungen Leute. Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum meine Freundin sich so rar macht."


Pastor Holz ordert bei seiner Frau eine neue Kanne Pfefferminztee. Als sie ihm einschenkt, murmelt er: "Kunst ist nicht für einen Appel und ein Ei zu haben." Seine Frau nickt: "Dafür müssen Opfer gebracht werden."


Darüber wird auch noch im Jahre 1997 vor Gericht gestritten. Ein Jünger des Herrn Tüte, bekanntlich war ja das weltrekordverdächtige Gemälde in Bad Frankenhausen ein Werk mehrerer Künstler, kopiert einen Gemäldeausschnitt, in dem Bezug auf den Hieronymus-Bosch Brunnen im „Garten der Lüste“ genommen wird. Unterhalb des Scheitelpunktes eines gigantischen Regenbogens befindet sich dieser Brunnen. In der Mitte thront ein großer Apfel statt der Fontäne. Als Persiflage krönt der Jünger diesen Ausschnitt mit einem Ei, statt dem Apfel. Es heißt: "Ein Ei für einen Apfel." Der Besitzer eines Hotels aus Bad Frankenhausen erfreut sich eines gesunden Humors und kauft das Werk, um es in der Hotelhalle auszustellen. Maler Tüte scheint überhaupt keinen Humor zu besitzen und strengt eine Klage an. Lokaltermine treiben Prozesskosten in die Höhe. Schließlich befindet das Gericht, dass ein eindeutiges Plagiat vorliegt. Der Hotelier wird dazu verdonnert, das Gemälde zu verhängen, oder es zu vernichten. Der Unternehmer entscheidet sich zu ersterer Variante. Christo hätte seine Freude daran gehabt. Wenig später wird gerichtlicherseits geprüft, ob die Verhüllung wahrhaftig ist, oder nur ein neuer Werbe-Gag. Das Gericht gelangt zu der Auffassung, dass es neugierigen Hotelgästen durchaus möglich ist, die Verhüllung zu entfernen, um einen Blick auf die inkriminierten Partien zu erhaschen. Ein Ende ist nicht in Sicht. Kunst kann auch strafbar werden.


Das Altarbild jedoch darf bewundert werden. Dieser pastellige Flügelalter, dessen Malweise zwischen den Könnern wie Werner Peiner und Oskar Martin Amorbach eines nicht mehr vorhandenen tausendjährigen Reiches angesiedelt ist, kostete einen Betrag, der sechs Ziffern umfasst. Für ein Appel und ein Ei ist eben Kunst mit gesellschaftlichem Auftrag nicht zu haben.


1997/2021





Mende-Orgel von 1845, St. Nikolaikirche in Wismar




            Arnstadt, Oberkirche, Flügelaltar von Frans Floris
        aus dem Jahr 1554, zum Gedächtnis Fürst Günther XVI. v.                                             Schwarzburg-Sondershausen

                    Jesus-Figur aus der St.Nikolaikirche in Wismar